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Titel
Tocqueville-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung


Herausgeber
Campagna, Norbert; Hidalgo, Oliver; Krause, Skadi Siiri
Erschienen
Stuttgart 2021: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 99,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Gärtner, Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld

Mit dem Tocqueville-Handbuch legen Norbert Campagna, Oliver Hidalgo und Skadi Siiri Krause nicht weniger als ein künftiges Standard- und Referenzwerk für die Forschung rund um den französischen Politiker, Historiker und frühen Sozialforscher vor. Das Handbuch muss insbesondere als ein wichtiger Beitrag zur deutschsprachigen Forschung gelten, wo die Rezeption von Alexis de Tocqueville (1805–1859) weit weniger intensiv als in der englisch- oder französischsprachigen stattfand, was vor allem mit der Geschichte und Institutionalisierung verschiedener Fächer und Disziplinen im 19. Jahrhundert zu tun hat. Umso mehr ist der vorliegende Band zu begrüßen, der die komplexen Zusammenhänge von Tocquevilles Leben, Werk und Wirkung zugänglich aufbereitet als auch die wichtigsten seiner Begriffe und Konzepte präsentiert. Die über 100 Einträge belegen den umfassenden Kenntnisreichtum der Herausgeber:innen und Autor:innen.

Dem Trend der deutschsprachigen Forschung folgend, setzt das Tocqueville-Handbuch auf die Historisierung des Gesamtwerkes von Alexis de Tocqueville, anstatt es lediglich theoretisch-konzeptuell zu begreifen. Dieses zeichnet sich besonders durch seine interdisziplinäre Vielschichtigkeit aus. In der Einleitung schreibt Oliver Hidalgo treffend: „Tocquevilles Œuvre ist im wahrsten Sinne des Wortes interdisziplinär angelegt.“ (S. 13) Mit großer Übersichtlichkeit stellt das Handbuch alle wichtigen Arbeiten und Schriften Tocquevilles vor und geht auf deren jeweilige Entstehungskontexte ein. Tatsächlich umfasst Tocquevilles Werk neben einer beachtlichen Privatkorrespondenz (z.B. mit Louis de Kergolay, John Stuart Mill, Arthur de Gobineau u.a.) Arbeiten und Schriften, die sich einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen zuschreiben lassen. Zu nennen wäre etwa der im weitesten Sinne rechtswissenschaftliche Gefängnisbericht Du Système pénitentiaire aux États-Unis et de son application en France (1832), den Tocqueville gemeinsam mit Gustave de Beaumont verfasst hat. Tocquevilles wohl berühmtestes Werk De la démocratie en Amérique (1835/1840) ließe sich hingegen am ehesten als politik- oder sozialwissenschaftliche Abhandlung im Sinne einer „Politische[n] Soziologie im Anschluss an Montesquieu“ (S. 13) bezeichnen. Aber auch geschichtswissenschaftliche Schriften wie L’État social et politique de la France avant et depuis 1789 (1836) sowie L’Ancien Régime et la Révolution (1856) gehören zu Tocquevilles Schaffen. Hinzu kommen politische Interventionen zur Abschaffung der Sklaverei im Rapport […] relative aux esclaves des colonies (1839) sowie zur französischen Kolonialpolitik in Algerien in Travail sur L’Algérie (1841). Ebenso sind auch autobiographische Schriften wie die posthum veröffentlichten Souvenirs (1893) sowie literarische Reisebeschreibungen wie Quinze Jours dans le désert (1831) nicht zu vernachlässigen. Auf systematische Weise weist das Handbuch auch die vielfachen philosophischen Einflüsse von Aristoteles, Bacon und Burke über Hobbes und Kant zu Pascal und Rousseau nach, die Tocquevilles Schreiben ausmachen.

Der überwiegende Teil der Einträge des Handbuchs behandelt rechts- (Gerichtswesen, Rechte/Würde, Staat/Regierung etc.), politik- (Demokratie, Föderalismus, Wahlen etc.), sozial- (Erziehung, Klassen, Sozialismus etc.), geschichts- (Ancien Regime/Absolutismus, Monarchie, Restauration etc.) und religionswissenschaftliche (Atheismus, Christentum, Puritanismus/Protestantismus etc.) sowie philosophische (Freiheit, Individualismus, Philosophie etc.) Begriffe und Konzepte. Weitaus weniger davon lassen sich auch kultur-, medien- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen zuordnen (Sitten/Gewohnheiten, Vorurteil, Literatur/Kunst/Architektur). In der Auswahl spiegelt sich eine wissenschaftliche Arbeitsteilung und Vereinnahmung Tocquevilles als Begründer spezieller Disziplinen, die der älteren, tradierten Tocqueville-Forschung verpflichtet ist. Insofern reproduziert das Handbuch eingeübte disziplinäre Trennungen, gegen die es sich eigentlich ausspricht. Aus den literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen kamen zuletzt wichtige Impulse, sodass die Tocqueville-Forschung von einer weiteren interdisziplinären Zusammenarbeit hier am meisten profitieren könnte. Das Handbuch führt selbst einige vielversprechende Begriffe und Konzepte Tocquevilles auf, die ebenso für feministische (Frau/Familie, Gleichheit) und postkoloniale (Imperialismus, Rasse/Rassismus, Sklaverei) Paradigmen anschlussfähig wären.

Viele der im Handbuch vorgestellten Begriffe und Konzepte sowie einige Schlagworte, die mit Alexis de Tocqueville verbunden werden – man denke an den „Tocqueville-Effekt“, die „Prophetie des Massenzeitalters“ oder die „Postdemokratie“ – sind bekannt und stellen eine Art „gesichertes Wissen“ der Tocqueville-Forschung dar. Das Handbuch hat notwendigerweise eine enzyklopädische Form, die den prozessualen und interdisziplinären Charakter von Tocquevilles Schreiben nur eingeschränkt wiedergeben kann. Handelt es sich bei den von Tocqueville entworfenen Begriffen und Konzepten doch um ein dynamisches Wissen mit Ideen, die in viele Richtungen offen sind. Statt einer alphabetischen Ordnung wäre eine an ideen- und wissensgeschichtlichen Kontexten orientierte Gliederung deshalb noch überzeugender gewesen. Die Auswahl der Begriffe, Konzepte und Schlagworte hätte noch stärker im Hinblick auf die angesprochene Rezeption Tocquevilles in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen problematisiert werden können. Sinnvoll wäre gewesen, über Begriffe und Konzepte hinaus auch Praktiken wie Reisen, Beobachten, Erzählen oder Vergleichen1, die das Handbuch verschiedentlich bereits anspricht, auch systematisch miteinzubeziehen. Diese liegen quer zu disziplinären Einordnungen und so bekäme man einen noch präziseren Einblick in Tocquevilles Gesamtwerk und das, was seine Texte eigentlich tun.2

Abschließend möchte ich anregen, sich Tocquevilles Leben und Werk noch stärker als versuchsweise Erkundungen der Welt vorzustellen. Es ist ein Schreiben in Bewegung, das immer auch imaginative und narrative Dimensionen beinhaltet.3 Viele seiner Ideen gehen zurück auf Tocquevilles Beschäftigung mit kolonialen Kontaktzonen wie Nordamerika, Algerien, England und Irland, Indien, von denen er viele auch bereiste. Hinzu kamen Fahrten in europäische Länder wie Frankreich, die Schweiz oder Sizilien. Tocqueville beobachtete und schrieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – ungefähr zur selben Zeit wie Alexander von Humboldt –, als sich die Ausdifferenzierung der „vergleichenden Wissenschaften“ und ihre Institutionalisierungen im vollen Schwung befanden und auch die Grenzen zu den Künsten und der Literatur nicht festgelegt waren, wie Tocquevilles dauerhafte Kooperation mit dem Reisegefährten und Romancier Gustave de Beaumont belegt.4 Tocquevilles faszinierender Entwurf einer „neuen politischen Wissenschaft“ entsteht in diesem Kontext und auch dieser lebt von der produktiven Kraft des Vergleichs.5 Obwohl die „vergleichende Methode“ schon oft Gegenstand von Untersuchungen war, wie Skadi Siiri Krause in einem sehr zu empfehlenden Artikel im Handbuch (S. 292–294) konstatiert, stellt die Analyse des eigentlichen Vergleichens und anderer Praktiken weiterhin ein Desiderat der Forschung zu Tocqueville dar. Das Tocqueville-Handbuch bietet viele solche inspirierenden Denkanstöße und fordert zum weiteren interdisziplinären Austausch auf. Es ist das bislang einzige ausführliche Nachschlagewerk in diesem Bereich und regt zur weiteren Erforschung von Leben, Werk und Wirkung Alexis de Tocquevilles an – Bibliotheken empfehle ich es daher dringend zur Anschaffung.

Anmerkungen:
1 Angelika Epple / Walter Erhart (Hrsg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt am Main 2015.
2 Ein ähnliches Anliegen erkenne ich bei Harald Bluhm / Skadi Siiri Krause, Tocquevilles erfahrungsgeschichtliche Analyse der Demokratie. Quellen, Konturen und Leistungsfähigkeit seines Konzepts, in: Leviathan 42,4 (2014), S. 635–656.
3 Vgl. Julian T. D. Gärtner, Tocquevilles’s Compass: On History, Race and Comparison in A Fortnight in the Wilds, in: Eleonora Rohland / Angelika Epple / Antje Flüchter / Kirsten Kramer (Hrsg.), Contact, Conquest, Civilization. How Practices of Comparing Shaped Empires and Colonialism Around the World, New York 2021, S. 268–288.
4 Vgl. Peter V. Zima / Reinhard Karcianka / Johann Strutz, Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen 2000; Michael Eggers, Vergleichendes Erkennen. Zur Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie des Vergleichs und zur Genealogie der Komparatistik, Heidelberg 2016.
5 Skadi Siiri Krause, Eine neue Politische Wissenschaft für eine Neue Welt. Alexis de Tocqueville im Spiegel seiner Zeit, Berlin 2017; zum Vergleichen siehe Willibald Steinmetz, The Force of Comparison. A New Perspective on Modern European History and the Contemporary World, Oxford 2019.

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